Die Moral von der Geschicht

Manchmal begegnen mir Menschen, die einfach mit Big Tech abschließen wollen. Dafür gibt es gute Gründe, aber es gibt auch Gründe, die enttäuschen werden. Ihnen liegt eine Erwartung zugrunde. Eine Erwartung und ein Heilsversprechen. Ein Paradies. Dabei ist nicht alles Gold was glänzt und es kann hilfreich sein, sich vorher über die Gründe Gedanken zu machen, wegen denen man seine Plattform wechseln will. Vielleicht gibt es auch gar keinen Grund. Und obwohl es keinen Grund gibt, kann der Wechsel zu einem föderierten System trotzdem vernünftig und empfehlenswert sein.
Menschen können sich moralisch nicht mehr mit den großen Plattformen identifizieren. Meistens wird die Moderation kritisiert. Diese lässt Menschen mit den falschen Überzeugungen viel zu lange gewähren. Nun möchte man auf eine Plattform wechseln, bei der es keine autoritäre oder zentrale Struktur gibt, was allerdings auch bedeutet, dass es keine zentrale Moderation gibt. Die Untätigkeit einer Moderation als Grundlage für den Wechsel zu einem System, das grundsätzlich über gar keine übergreifende Moderation verfügt? Ich behaupte, in einem System ohne übergeordnete Moderation wirst du noch viel häufiger mit unangemessenen Beiträgen konfrontiert werden.
Ein Gedanke, der bedacht werden muss: wenn die ganzen guten Leute jetzt bestimmte Plattformen verlassen, wieso waren die Plattformen vorher nicht schon hoffnungsvoll, sondern genauso toxisch, mit all diesen Leuten, die jetzt erst gehen oder jüngst gegangen sind? Die Antwort ist relativ einfach. Die Leute verstehen unter Toxizität eher, dass sie mit Meinungen und Leuten konfrontiert werden, die sie nicht teilen. Sie reflektieren selten die eigene Toxizität, mit der sie diese Plattform vergiftet haben. Wir erleben in den föderierten Systemen wie dem Fediverse oder ATmosphere diese Toxizität. Sie drückt sich bei Bluesky durch das exzessive Nutzen von Blocklisten aus, durch den Missbrauch von Labelern und einer allgemeinen Kultur, die selbst innerhalb der eigenen Bubble keinen Widerspruch mehr zu ertragen bereit ist, sondern die regelrecht obsessiv von dem Gedanken besessen ist, alles wegzublocken, was nicht mit einem selbst übereinstimmt.
Im Fediverse drückt sich der Frust über die Leute aus, die nun von X kämen und das Fediverse vergiften würden. Von allerlei Streitigkeiten einmal abgesehen, die im Widerspruch zum Gedanken einer Dezentralität stehen, weil man sich am Ende doch ersehnt, dass zentralistisch gegen Leute durchgegriffen wird, die einem nicht in den Kram passen. Es kommt Frust auf, weil die ursprüngliche Idylle nicht mehr erhalten bleibt. Dabei gibt es hier auch Menschen, die das Protokoll ein bisschen größer denken wollen.

Es bleibt aber wie es ist: die dezentralen oder föderierten Systeme sind kein Ort besserer Menschen, sie sind keine Idyllen. Sie können genauso nervig sein und die Leute, die Euch bei X, Meta... gestört haben, werden Euch auch im Fediverse oder in ATmosphere stören. Nicht nur das, in beiden finden sich Accounts, die vom allgemeinen Konsens her inakzeptabel sind. Und Ihr werdet sie nicht los, selbst wenn sie serverseitig gebannt würden (entweder auf Ebene des PDS, was Bluesky angeht, oder auf Ebene der Instanz, was das Fediverse betrifft), weil sie durch einen Umzug wieder freie Hand haben und weitermachen können, sofern es nicht protokollseitig Möglichkeiten gibt, sie von der jeweiligen Software/Applikation her auszublenden, oder den politischen Willen, dies zu tun.
Wenn Ihr aus moralischen Gründen zu einem föderierten System gehen wollt, vergesst es. Ihr müsstet damit klar kommen, keine zentralistische Moderation vorzufinden, die in Eurem Sinne agiert. Ihr scheitert entweder am amerikanischen Meinungsfreiheitsverständnis oder an Instanzadmins und ihrer eigenen Agenda.
Dennoch gibt es gute und vernünftige Gründe
Gibt es dennoch gute Gründe? Grundsätzlich natürlich. Es gibt gute und vernünftige Gründe. Die Möglichkeit heißt: Gestaltung der eigenen Online Erfahrung. Freilich ist das nicht mit der Gestaltung anderer Erfahrungen zu verwechseln, auch wenn das die politische Mission mancher Menschen ist. Es ist ein Spielraum, der es Dir möglich macht, Socialmedia so zu gestalten wie es für Dich hilfreich und nicht-toxisch ist. Auf der einen Seite haben wir die Tatsache, dass in den föderierten (dezentralen) Netzen kein Algorithmus Deine Sichtbarkeit reduziert.
Das ist tatsächlich ein großes Problem der klassischen Systeme. Eines, wovon die wenigsten Menschen etwas mitbekommen. Auf X kann man davon einen Eindruck bekommen, dass die Reaktionen auf die eigenen Tweets teilweise bei Null liegen, wenngleich Deine Kommentare unter den Beiträgen anderer Accounts viel positives Feedback erhalten. Es müsste in einem ausgewogenen Verhältnis liegen (wenn du dich bei den Kommentaren nicht ganz verstellst). Dass es das nicht tut, zeigt den Einsatz bestimmter Algorithmen. Etwas überspitzt könnte man resümieren: "Wozu auf einer Plattform sein, die einen unsichtbar macht?" Dafür gibt es keinen Grund.
Es ist aber ein deutlich guter Grund, sich eine Plattform zu suchen, bei der man nicht ins buchstäbliche Nirvana schreibt. Es ist eine einfache Aufwand-Nutzen-Rechnung, die für Unternehmen relevant sein sollte. Ein anderer Grund ist, dass es zwar keine objektive oder zentralistische Moderation gibt, aber ausreichend Tools, um Accounts vollständig auszublenden und jede Interaktion zu unterbinden oder die Möglichkeit, als Anbieter einer Instanz (Fediverse) bestimmte Accounts aus der Gesamterfahrung der eigenen Instanz (des eigenen Angebots) ausblenden zu können.
Wenn Eure Gründe moralischer Natur sind oder Ihr glaubt, jenseits von Big-Tech die besseren Menschen zu finden, vergesst es. Wenn Ihr aber objektiv gute Gründe habt, ist dieser Schritt in einer Welt, in der Big-Tech und Regierungen immer deutlicher zusammenwachsen, eine gute Entscheidung.